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Das Spiel mit dem Schicksal

Gibt es eine höhere Macht? Wird alles auf dieser Welt wie von einem Computerprogramm gesteuert? Könnten wir Menschen diese Zufälle und unvorsehbaren Ereignisse nicht doch berechnen? Warum entziehen sich so manche Ereignisse unserem Einfluss und unserer Gestaltungsmöglichkeit? Ist diese Natur und das Leben mit Geburt und Tod nicht irgendwie unter Kontrolle zu bekommen? Was ist das Schicksal? Und wie bestimmt und lenkt es uns als Menschen? Spiel ist Dialog mit der Welt. Glücksspiel ist das Hadern mit dem Schicksal. Ein Urphänomen der Menschheit. Welches Los ziehen wir in unserer Lebenslotterie?

Würfel

Das Losen zwischen Zukunftsprognostik, Selbsterkenntnis und Partyunterhaltung

‚Fokussiere Dich… atme tief ein…‘ („Focus… Breathe…“), verlangt der rosafarbene, stark verpixelte Hyper*Goblin*Fortune*Teller, bevor er eine imaginäre Spielkarte zieht und dem klickfreudigen Nutzer einen Schicksalsspruch verkündet (Abb. 1).

Abb. 1: Hyper*Goblin*Fortune*Teller

Der Spielablauf ist immer derselbe (1): Nach der Aufforderung, zur Ruhe zu kommen, wird der Name einer imaginär gezogenen Spielkarte genannt und das Kartenbild beschrieben. Das klingt etwa so:

 

‚The Filth‘

This card depicts a naked goblin covering herself in mud and dirt smiling.
(Diese Karte zeigt eine nackte Koboldin, die sich lächelnd mit Schlamm und Dreck bedeckt.)

Oder:

 

‚The Overlord‘

This card depicts an angry looking human pointing and yelling at a team of poorly armored goblins. He is acting like because he is strong or because he has offered gold, he owns them.
(Diese Karte zeigt einen wütend aussehenden Menschen, der auf eine Gruppe schlecht gepanzerter Goblins zeigt und sie anschreit. Er tut so, als ob sie ihm gehören, weil er stark ist oder weil er Gold angeboten hat.)

Man muss sich die Karten (die man indessen selbst nicht zu Gesicht bekommt) wohl in der Art von Tarot-Karten vorstellen. Als nächstes folgt die Auslegung der jeweiligen Karte:

‚The Filth‘

[…] When you draw this card, it signifies that you are spending too much energy trying to be something that you are not. Let yourself rejoice in who you really are.
(Wenn du diese Karte ziehst, bedeutet das, dass du zu viel Energie darauf verwendest, etwas zu sein, was du nicht bist. Erlaube dir, dich an dem zu erfreuen, was du wirklich bist.)

‚The Overlord‘

[…] This card asks you what forces in your life are driving you in direction that are unsafe or harmful for you? Is the risk worth the reward? Or is it time to rise up in rebellion?
(Diese Karte fragt dich, welche Kräfte in deinem Leben dich in eine Richtung treiben, die unsicher oder schädlich für dich ist? Ist das Risiko die Belohnung wert? Oder ist es an der Zeit, sich zu erheben und zu rebellieren?)

Am Ende wird der Vorgang mit dem ‚Segensspruch‘ abgeschlossen: „May your horde grow ever larger“ ("Möge deine Schar immer größer werden").

Nicht nur echte Goblins dürften ihre Freude an dieser spielerischen Zukunftsprognostik haben, wobei ‚Prognostik‘ vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist, denn die Sprüche dienen nicht wirklich dazu, etwas über die eigene Zukunft zu erfahren, sondern vielmehr sich selbst kennenzulernen. Der Hyper*Goblin*Fortune*Teller ist nur eines von vielen solcher durchaus simplen Online-Spielen, die den Nutzer zu einer vergnüglichen Selbstreflexion einladen. Im ‚Virtual Hatsumode‘ kann man einen virtuellen japanischen Schrein besuchen und dabei eine Glückslosung ziehen oder einfach am Goldfischteich ausruhen und meditativen Saitenklängen lauschen (2), in ‚Seasons of Fortune‘ kann man eine wieder stark verpixelte Möhre (oder ein anderes Wurzelgemüse) aus einem Feld ernten, die ebenfalls allgemeingültige Weisheitssprüche wie z. B. „A garden is good for the soul“ (Abb. 2) oder „Life is too short to deal with dishonest people“ verkündet. (3)

Abb. 2: Seasons of Fortune


Derartige Spielvergnügungen existieren selbstredend nicht erst im digitalen Zeitalter. Schon früher wurden etwa Spiel- oder gar explizit entworfene Wahrsagekarten gelegt, wurden Horoskope konsultiert, Bleilote gependelt oder Runensteine geworfen, um z. B. Auskunft über die nahende Zukunft zu erhalten.

Losbücher als Wegweiser im Umgang mit dem Schicksal

Nicht immer ist dabei klar zu erkennen, wo das ernsthafte Wahrsagen in spielerische Unterhaltung übergeht. In jedem Falle scheint es die Menschen schon immer fasziniert zu haben, auf diese Weise etwas über das eigene Schicksal zu erfahren. Ein besonders beliebtes Mittel der Prognostik stellten lange Zeit die Losbücher dar. Ihre Geschichte lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen.

Zunächst war das Losen wohl nicht als Spiel gedacht, sondern als kultische Handlung, die dazu diente den Willen einer Gottheit zu erfragen. In dieser Form wird es auch biblisch erwähnt, etwa wenn die Israeliten bei der Landnahme das gelobte Land durch Loswerfen untereinander aufteilen (Bibel AT: Josua 14,2). Hier geht es um eine ganz konkrete Zuteilung – nicht um eine allgemeine Schicksalsprognostik. Die wurde im Juden- wie im Christentum bekanntlich eher kritisch beäugt.

Dennoch finden sich frühzeitig Losverfahren, bei denen Knochen (Astragale), Runensteine oder Würfel geworfen wurden, um den Lauf des Schicksals zu erfragen (und das natürlich nicht nur im jüdisch-christlichen Bereich). Da die Zukunftsdeutung aber keine einfache Sache ist, entstanden bereits in der Antike im östlichen Mittelmeerraum Losbücher, in denen etwa professionell Wahrsagende (die sortilegi) nachschlagen konnten, was der Wurf eines Knochens oder Würfels zu bedeuten hatte (4).

Auch in Europa verbreiteten sich diese Bücher, allerdings verhielt sich die frühe Kirche gegenüber diesem Orakeln eher reserviert. Beim Konzil von Vannes (462–468 n. Chr.) wurde der Gebrauch der Losbücher als abergläubische Orakelpraktik zumindest den Geistlichen untersagt. (5)

Der Wunsch etwas über die eigene Zukunft zu wissen, bestand aber ungebrochen fort. Im Hochmittelalter ist er – zumindest was die Losbücher angeht – in Deutschland wenig fassbar. Dass auch hier gelost wurde, geht aus Warnsprüchen hervor. So heißt es etwa in den Disticha Catonis, einer moralischen Spruchsammlung: „Du solt mit lôzbuochen / gotes willen niht versuochen“ („Du sollst mit Losbüchern den Willen Gottes nicht herausfordern“). Losbücher in deutscher Sprache finden sich erst ab dem 14. Jahrhundert – zunächst in handschriftlicher Form. (6)

Die Einführung des Buchdrucks fördert dann ihre rasche Verbreitung; tatsächlich gehören sie zu den beliebtesten Textsorten des Spätmittelalters. Eine ganze Reihe solcher Losbüchlein entsteht, wobei die eingesetzten Losmittel (also die Mittel, mit denen ein Losspruch gefunden wird) variieren und durchaus fantasievoll sein können. Die häufigsten Losbücher sind sogenannte Würfelbücher, bei denen drei Würfel geworfen werden. Zu jedem möglichen Ergebnis, angefangen bei der 6-6-6 bis hin zur 1-1-1, findet sich ein Losspruch.

Abb. 3: Der Klassiker, drei Würfel

In anderen Büchern muss der/die Losende hingegen eine Spielkarte ziehen, zufällig einen Buchstaben aus dem Alphabet ermitteln oder eine im Buch befestigte Drehscheibe/Volvelle drehen. Manche Losbücher sehen recht schlicht aus, viele sind aber durchaus aufwendig gestaltet und mit Zeichnungen (oder bei Drucken: mit Holzschnitten) versehen. Dann wird meist jeder der Lossprüche durch einen sogenannten ‚Spruchgeber‘ verkündet. Dabei handelt es sich etwa um Heilige, prominente Figuren der Antike oder sehr häufig auch um Tiere, denen der Losspruch in den Mund gelegt wird (Abb. 4).

Abb. 4: Cgm312 66r; Seite aus Konrad Bollstatters Fassung des Würfelbuches für Liebende

Zwei Arten von Losbüchern

Grundsätzlich kann man zwei Arten von Losbüchern unterscheiden: Während die einen allgemeine Zukunftsprognosen liefern, kann man bei den anderen eine Frage aus einem vorgegebenen Fragenkatalog auswählen, um dann recht konkret zu erfahren, ob es derzeit z. B. klug sei zu verreisen, zu heiraten oder sich auf einen Kampf einzulassen. Solche Losbücher erlauben prinzipiell eine recht genaue und spezifische Prognostik, und vor allem eine, die jeder Lesekundige selbst vornehmen konnte: Um drei Würfel zu werfen und an entsprechender Stelle nachzuschlagen, braucht man keine ausgebildeten Wahrsager mehr.

 

Interessant ist, dass sich im Spätmittelalter aber der grundlegende Duktus der Losbücher bereits gewandelt hat, denn im Gegensatz zu ihren antiken und frühmittelalterlichen Pendants, waren die meisten dieser volkssprachlichen Losbücher wohl selten ganz ernstgemeint. Am ehesten trifft dies vielleicht noch für die Losbücher mit Fragen zu, aber selbst bei diesen nimmt der spielerisch-unterhaltende Charakter immer mehr zu. In den meisten Fällen tritt er recht deutlich zu Tage: So fokussieren sich etwa viele der Losbücher ohne Fragen auf ‚Liebeshoroskope‘ und prognostizieren den Losenden künftige glückliche oder unglückliche Liebschaften. Dabei warten sie bisweilen mit recht derben Sprüchen auf. So heißt es etwa in Johann Blaubirers Fassung vom Würfelbuch für Liebende unter dem Würfelergebnis 6-3-3:

Wie bist du so gar eyn gauch,
das du lauffest toerechter red nach,
dye sy dir geben tuot.
Ayn anderer gibt ir hohen muot.
Gelaub mir fur eyn warheit czwar:
Sy zeúcht dich an dem narren sail gar.

(Würfelbuch für Liebende, Vs. 91–96; „Was bist Du nur für ein Narr, dass Du dem törichten Geschwätz glaubst, das sie Dir zu Teil werden lässt. In Wirklichkeit erfreut sie einen Anderen. Glaub es mir, es ist die Wahrheit. Sie führt Dich am Narrenseil herum.“)

Losbücher als Gesellschaftsspiel

Solche Losbücher sorgten sicher hauptsächlich für Gelächter, zumal die Nutzung von Losbüchern durchaus in Gesellschaft erfolgte. Sie gehören zu der im Spätmittelalter immer beliebter werdenden Gattung der ‚Gesprächsspiele‘, zu denen etwa auch Frage-Antwort-, Rätsel- oder Erzählspiele gerechnet werden. Dass die Losbücher ebenfalls hier zu verorten sind, kann man den Texten selbst entnehmen, denn bisweilen wird das Losen mit der Abgabe von Pfändern oder dem Ausführen irgendwelcher alberner Tätigkeiten verbunden. So verlangen etwa die Spruchgeber in Leonhard Reynmanns Punktierbuch, dass der Losende, wenn er ihren Spruch hören wolle, zuvor wie ein Hahn krähen oder auf einem Bein hüpfen müsse. Bei dem Spruchgeber Ptolemäus heißt es z. B.:

Ptholomeus spricht
Ich merck, du kumpst darumb zu mir,
Das ich soll gruntlich sagen dir
Dein recht war angeborn glück,
Darumb gib her von gold ein stück
Oder krey aber als ein han,
Laß hoeren, ob du seyst ein mann.

(Punktierbuch, Vs. 164–169; „Ptolemäus spricht: Ich sehe schon, Du kommst zu mir, damit ich Dir gründlich von Deinem angeborenen Glück erzählen soll. Darum gib mir zuerst ein Goldstück oder Krähe noch einmal wie ein Hahn. Lass hören, ob Du ein echter Mann bist“)

Eine bemerkenswerte Besonderheit von Reynmanns Buch ist, dass er für jedes Losergebnis gleich vier unterschiedliche Sprüche anbietet: Einen für Männer, einen für Frauen, einen für Jungen und einen für Mädchen. Je nachdem in welcher Gruppe man spielt, hört man daher immer wieder neue Verse.

Mit ernst gemeintem divinatorischen Losen hat Reynmanns Punktierbuch sicher nichts mehr zu tun. Die Übergänge waren aber noch fließend: Das kann man sich ein bisschen wie bei heutigen Zeitungshoroskopen vorstellen: Während eine*r die dort gedruckten Sprüche vielleicht ernst nimmt, liest sie ein*e andere*r schlicht zur Erheiterung im Freundes- oder Bekanntenkreis vor.

Selbst bei den ernsteren Losbüchern spielt ein echter zukunftsprognostischer Aspekt häufig gar keine Rolle. Wenn Ernsthaftes verkündet wird, dann sind dies oft allgemeine Lebensweisheiten, die eher der Selbsterkenntnis dienen. Das

ist gar nicht so viel anders wie beim Hyper*Goblin*Fortune*Teller oder dem Wurzelgemüse aus ‚Seasons of Fortune‘.

Darum stellten die Losbücher dieser Zeit für die Kirche eigentlich kein Problem dar. Zwar wird immer mal wieder daran gemahnt, dass man die verkündeten Orakel- und Horoskopsprüche nicht ernst nehmen solle, insgesamt wurden die Losbücher aber eben als Spiele klassifiziert und mit anderen Spielformen verglichen. Und gegenüber diesen anderen Spielen – insbesondere dem Glücksspiel um Geld – stellten sie in jedem Falle das kleinere Übel dar. Bisweilen grenzen sich die Losbücher selbst in ihren Pro- und Epilogen vom Glücksspiel ab und plädieren für eine bessere und sinnvollere Nutzung der Würfel (oder Spielkarten) mit dem vorliegenden Buch.

Viele Losbücher weisen deutliche didaktische Züge auf. (7) Schon bei den derben Liebeshoroskopen ist dies zu spüren, wenn etwa die Untreue eines/einer Geliebten mit der eigenen Falschheit und Untreue begründet wird. So heißt es etwa im Würfelbuch für Liebende:

 

6-3-1
Kayn guots ich dir sag,
wann du hast all deyn tag
bescheyßwerck getriben
und bist nit lang beliben
an eynem puolen mit staetikeit,
wann dein hertz lútzel trew treit.

(Würfelbuch für Liebende, Vs. 103–108; „Ich kann Dir nichts Gutes berichten, denn Du hast all Dein Lebtag nur Beschissen und bist keinem/r Geliebten längere Zeit treu geblieben, weil Dein Herz keine Treue in sich trägt“)


Nicht nur Liebesdinge werden auf diese bisweilen recht kernige Art gelehrt:

Dir sagen Sechs Lauber zu aller frist,
das du ein geitziger sack bist.
Je mer du gutes hast,
je mer du gutes irre gast.
Thu sein nit und zer mit fug.
Du hast guts dein lebtag genug.
Oder du verschuldest on zweifell,
das dir der lon wirt von dem teuffell

(Mainzer Kartenlosbuch, Vs. 349 – 356; „Die Pik-6 sagt Dir zu jeder Zeit, dass Du ein geiziger Sack bist. Je mehr Gutes Du besitzt, desto mehr gehst Du am Guten in die Irre. Lass das sein und zehre schicklich von Deinem Besitz. Daran hast Du genug für Dein ganzes Lebtag. Sonst wirst Du unzweifelhaft dafür sorgen, dass Du am Ende vom Teufel Deinen Lohn erhältst“)

Auf diese Weise vermitteln die Losbüchern eine schlichte Sicht auf die Welt, in der es den Guten gut, den Schlechten hingegen schlecht ergeht. Der oft genug als überfordernd wahrgenommenen realen Welt steht so das Spiel gegenüber, dass zwar einen Mechanismus aufweist, der auf Kontingenz und Zufall basiert, trotzdem aber eine für Ordnung plädiert. Auch konkrete moraldidaktische Mahnungen finden sich in den Losbüchern, etwa die, zum Guten bzw. zu Gott umzukehren und das Schlechte sein zu lassen. So heißt es etwa im Loszbüchlin von kurtzweilwegen beim Würfelergebnis 6-4-4:

 

Ein guotten wurff hoff ich bestan:
Nach dynem willen sol es dir gan.
Wiltu in Gottes dienst syn,
er würt dich beschirmen vor pin.
Daß hymelrich soltu erwerben
und mit grossen eren sterben.

(Loszbüchlin von kurtzweil wegen, Vs. 112 – 117; „Ich hoffe einen guten Wurf zu leisten: Es soll Dir alles nach Deinem Willen gehen. Wenn Du im Dienste Gottes bleibst, so wird er Dich vor jeder Not beschützen. Du wirst das Himmelreich erben und mit großen Ehren sterben“)

Hinführung zu Gott - Losbücher im Dienste der Moral

Die Losbücher dienen der Selbsterkenntnis und -betrachtung, und versuchen sehr häufig den Menschen zu Gott hinzuführen. So rät z. B. der Elefant (Abb. 4) in Martin Flachs Tierlosbuch:

Der Helfant [Der Elefant]

Abb. 5: Martin Flach, Tierlosbuch 3r


Frew dich und hab ein fries leben:
Ere und guot wil dir Got geben
umb din grosse miltikeyt;
dar zuo ist dyn lob weyt.
Lob Got und dien jm wol.
Dyn hercz wyrt frewden vol.
Und du das mit gantzen trewen,
Es sol werlich dich nit gerewen.

(Tierlosbuch, Vs. 65–72; „Freue Dich und lebe ein freies Leben: Gott wird Dir Ehre und Besitz zu teil werden lassen, wegen Deiner großen Freigiebigkeit. Davon spricht man überall lohnend. Ehre Gott und diene ihm gut, dann wird Dein Herz voll Freude sein. Und tust Du das mit ganzer Treue, wirst Du es nicht bereuen“)

Solche Mahnungen sind meist allgemein gehalten. Einige Losbücher dienen jedoch auch der konkreteren religiösen Unterweisung, wie etwa das Straßburger Kartenlosbuch, bei dem es sich um eine Art Erbauungsbuch handelt. Durch das Ziehen einer Spielkarte wird ein religiöser Inhalt vermittelt, über den der Losende nachdenken soll. Auf diese Weise stellt das spielerische Element des Losens sicher, dass die religiöse Versenkung nicht allzu schnell langweilig wird – eine Praxis die sich bis in die Neuzeit hin erhalten hat – etwa beim Gebrauch von Gebetswürfeln für Kinder (Abb. 6).

Abb. 6: Gebetswürfel


Das Straßburger Kartenlosbuch ist ein komplexerer Fall, da hier das Kartenbild mit in die Lehre einbezogen wird. So dient etwa die Spielkarte der Herz-8 dazu, dem/der Losenden die acht Seligpreisungen Christi ins Gedächtnis zu rufen, während die Herz-7 an die sieben Gaben des Heiligen Geistes gemahnt:

 

Sieben Hertz erinnern dich gar schnel
deß heiligen geystes gaben hell,
wie die allenthalben inn schrifft gemeldt.
Der heilig Paulus klar davon hellt
zuon Corinthern am zwelfften trat,
in der ersten es geschrieben stat.

(Straßburger Kartenlosbuch, Vs. 207–212, „Die Herz-7 erinnert Dich schnell an die herrlichen sieben Gaben des Heiligen Geistes, von denen die Heilige Schrift berichtet. Der heilige Paulus spricht ganz klar davon im ersten Brief an die Korinther im zwölften [Kapitel]“)

Im Gegensatz zu den kurzen, meist 4–8 Verse umfassenden Lossprüchen der rein spielerischen Losbücher, werden in diesen primär didaktischen Werken oft sehr ausführliche Lehren ausgebreitet. Auf diese Weise wird nicht nur religiöses Wissen vermittelt, sondern memorativ zugleich an das Spielmaterial gebunden. Wer nach der (regelmäßigen) Nutzung des Straßburger Kartenlosbuchs ein Kartenblatt in Händen hält, und sei es auch, um damit ein Stichspiel zu spielen, kann kaum umhin, die vielfältigen Assoziationen, die an die Kartenbilder geknüpft sind, in seinem Geist zu vergegenwärtigen.

Wer die Losbücher für simple Spielformen hält, muss sich das eingeschränkte Spiele-Angebot jener Zeit vor Augen halten. Aber das ist sicher nicht der einzige Grund für ihre Beliebtheit: Eine einfach vermittelte Weisheitslehre scheint zu allen Zeiten ihre Rezipienten*innen zu finden – davon zeugen ja auch aktuelle Bestseller, wie z. B. John Streleckys Café am Rande der Welt. Verbunden mit dem Akt des Losens vermitteln solche Texte dem/der Lesenden vermutlich das Gefühl, die eigene Zukunft positiv gestalten zu können.

Das Gummibärchen-Orakel

Abb. 7: Gummibärchen-Orakel

1996 erschien mit dem Gummibärchen-Orakel von Dietmar Bittrich sogar ein modernes Losbuch. Als Losmittel dienen hier Gummibärchen, von denen zufällig fünf aus einer Tüte gezogen werden müssen. Die unterschiedlichen Farbzusammensetzungen führen dann zu den verschiedenen (auch hier stark auf die Selbsterkenntnis zielenden) Lossprüchen. Das Buch war ein solcher Erfolg, dass es mittlerweile als Online-Spiel verfügbar ist. Die Sprüche sind ausführlich, verlaufen aber nach demselben Muster wie bei den vormodernen Losbüchern. Wer etwa ein rotes, zwei gelbe, ein weißes und ein orangenes Bärchen aus der Tüte zieht, dem wird geraten, sich zu öffnen, sich nicht zu verkapseln (8):

Alle Schotten dicht? Brustpanzer angelegt? Visier runtergeklappt? Ja? Haben Sie? Ja, Sie haben sich ganz schön eingebunkert. Es ist, als seien Sie in eine alte Rüstung gestiegen. Die gibt Ihnen zwar ein Gefühl der Sicherheit. Aber vor allem lähmt sie Ihre Bewegungsmöglichkeiten. Zweimal Gelb, das heisst nämlich: Hier hat jemand eine Blockade. Eine selbstgeschaffene. Hier hat sich jemand Grenzen auferlegt. Und das sind Sie. Sie leben nur einen kleinen Ausschnitt Ihrer Möglichkeiten.

Und auch ein eigenes Liebeshoroskop gibt es mittlerweile nach diesem Modell. Drei rote, ein gelbes und ein grünes Bärchen verkünden etwa:

Leider müssen wir Ihnen an dieser Stelle sagen, dass mancher reizende Partner durch Ihre mächtige Liebeskraft leicht verunsichert wird. Dreimal Rot! Ganz unter uns: Oft bekommen Sie mehr, wenn Sie weniger fordern. Sie haben das partnerschaftliche gelbe Bärchen und das grüne Bärchen der Zuwendung und des Vertrauens. Das bedeutet: Um die Liebe geniessen zu können, brauchen Sie ein Gefühl der Sicherheit. Am besten bekommen Sie das in einer festen Beziehung. Und wenn die nur einigermassen akzeptabel ist, ist es schwierig, Sie auf Seitenpfade zu locken. Affären kommen bei Ihnen nur vor, wenn Sie notorisch unterversorgt sind.

Abb. 8: Gummibären, eine Quelle der Interpratation und des Glücks

Und auch ein eigenes Liebeshoroskop gibt es mittlerweile nach diesem Modell. Drei rote, ein gelbes und ein grünes Bärchen verkünden etwa:

Leider müssen wir Ihnen an dieser Stelle sagen, dass mancher reizende Partner durch Ihre mächtige Liebeskraft leicht verunsichert wird. Dreimal Rot! Ganz unter uns: Oft bekommen Sie mehr, wenn Sie weniger fordern. Sie haben das partnerschaftliche gelbe Bärchen und das grüne Bärchen der Zuwendung und des Vertrauens. Das bedeutet: Um die Liebe geniessen zu können, brauchen Sie ein Gefühl der Sicherheit. Am besten bekommen Sie das in einer festen Beziehung. Und wenn die nur einigermassen akzeptabel ist, ist es schwierig, Sie auf Seitenpfade zu locken. Affären kommen bei Ihnen nur vor, wenn Sie notorisch unterversorgt sind.

Neugier, wie das Schicksal das Losglück verteilt


Selbsterkenntnis und innere Betrachtung – dass hier recht plakative Kalendersprüche verkündet werden, tut dem Spielvergnügen bis heute keinen Abbruch: Die durch das Losen entstehende Neugier scheint ausreichend, immer wieder neu nach der Zukunft zu fragen. Denn völlig verschwindet der zukunftsprognostische Anteil in der Regel nicht: Wenn auf Partys mit Tarot-Karten spielerisch die Zukunft vorhergesagt oder eben durch Losbücher das eigene Schicksal prognostiziert wird, so spielt sicher das Gefühl eine Rolle, an ein positives Ergebnis vielleicht doch ein kleines bisschen glauben zu können, negative Vorhersagen hingegen nicht allzu ernst nehmen zu müssen.

Vielleicht wird so den Losenden sogar ein wenig die Angst vor der Zukunft genommen, denn immerhin ist ja alles nur ein Spiel, immer nur halber Ernst. Wem sein Schicksalsspruch nicht gefällt, der kann einfach noch einmal würfeln oder eine weitere Karte ziehen.

Infos zum Autor Dr. habil. Björn Reich: HIER.

Weiterer Artikel zum Thema: "Was Spiel und Zufall mit unserem Leben zu tun haben"

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Quellen und Anmerkungen

(1) Wer es selbst ausprobieren möchte: https://greyb.itch.io/hypergoblinfortuneteller

(2) https://npckc.itch.io/virtual-hatsumode

(3) https://metalsnail.itch.io/seasons-of-fortune

(4) Vgl. Frankfurter (2019), Klingshirn (2006).

(5) Vgl. Heiles (2018), S. 153–191.

(6) Zu Losbüchern als Gattung vgl. die grundlegende Arbeit: Heiles (2018). Einen Überblick bietet außerdem Bolte (1903).

(7) Zum didaktischen Gehalt von Losbüchern vgl. Reich (2018).

(8 ) www.gummibaerchen-orakel.ch/index.html

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Primärliteratur

Die hier zitierten vormodernen Losbücher sind in der Editionsreihe ‚Ludica‘ herausgegeben, kommentiert und mit Übersetzungshilfe erschienen (Abb. 6):

Abb. 9: Losbuchband aus der Reihe 'Ludica', Band 1

 


1) Straßburger Kartenlosbuch. Hrsg. v. Björn Reich. Stuttgart 2021 (= Ludica 1).

2) Gedruckte deutsche Losbücher des 15. und 16. Jahrhunderts, Band 1 (enthält Blaubirers Würfelbuch für Liebende, das Tierlosbuch Martin Flachs, das Mainzer Kartenlosbuch und das Loszbüchlein von kurtzwil wegen). Hrsg. v. Marco Heiles, Björn Reich und Matthias Standke. Stuttgart 2021 (= Ludica 2).

In Kürze erscheint:

3) Gedruckte deutsche Losbücher des 15. und 16. Jahrhunderts, Band 2 (enthält Jakob Köbels Lusbuch, Leonhard Reymanns Punktierbuch, Geomantisches Punktierbuch, Straßburger Würfelbuch). Hrsg. v. Marco Heiles, Björn Reich und Matthias Standke. Stuttgart 2023 (= Ludica 3)


Link zur Online-Bestellung beim Hirzel-Verlag: HIER.

Sekundärliteratur

1) Bolte (1903): Bolte, Johannes: Zur geschichte der losbücher. Anhang zu Georg Wickrams Wer¬ke, Bd. 4. Hrsg. v. Johannes Bolte. Tübingen 1903, S. 276–341. Online:
https://archive.org/details/BolteGeorgWickramsWerkeBd.4LosbuchVonDerTrunkenheitDerIreReitendePilger (Stand: 17.10.2022).

2) Frankfurter (2019): Frankfurter, David: Sortes, Scribality, and Syncretism: Ritual Experts and the Great Tradition in Byzantine Egypt. In: Luijendijk, Annemarie u. Klingshirn, William E. (Hrsg.): My Lots Are in Thy Hands: Sortilege and Its Practitioners in Late Antiquity. Leiden/ Boston 2019, S. 211–231.

3) Heiles (2018): Heiles, Marco: Das Losbuch. Manuskriptologie einer Textsorte des 14. bis 16. Jahrhunderts. Köln u. a. 2018.

3) Klingshirn (2006): Klingshirn, William E.: Inventing the sortilegus: lot divination and cultural identity in Italy, Rome, and the provinces. In: Harvey, Paul B. u. Schultz, Celia E. (Hrsg.): Religion in Republican Italy. Cambridge 2006, S. 137–161.

4) Reich (2018): Reich, Björn: Spiel und Moral. Zur Nutzung von Schach-, Würfel- und Kartenspielen in der moralischen Erziehung im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Habi¬litationsschrift zur Erlangung der Lehrbefähigung für das Fach Germanistik. Vorgelegt der Philo­sophischen Fakultät II der Humboldt Universität zu Berlin, den 30.11.2018 [habil. masch.]