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Grundphänomen Spielen und der Löwenmensch

Natur, Liebe, Arbeit, Herrschaft und Macht, Selbstfindung und Tod sind Grundphänomene des Menschen. Diese Elementarprobleme beschäftigen uns ständig und vielfältig, je nach Charakter und Bildungsstand mal mehr, mal weniger. Ein weiteres Grundphänomen ist das Spielen. Mit dem Spiel als Methode, treten wir mit unserer Welt in einen Dialog, um Antworten auf die existenziellen Fragen des Menschseins zu finden.

Der Löwenmensch

Der Löwenmensch, Stadtmuseum Ulm

Die Art und Weise der Bewältigungen dieser unterschiedlichen, geistigen und körperlichen Herausforderungen rund um die Natur, die Liebe, unsere Arbeit, das von uns konstruierte Herrschafts- und Machtsystem, unsere Selbstfindung und unseren Tod sowie unseren Umgang und Einsatz mit dem Grundphänomen des Spielens bestimmen unsere Kultur. Oder legt erst die Kultur das Fundament für unsere Fertigkeiten und Fähigkeiten sowie die damit verbundenen "erfolgreichen" Verhaltenweisen? Ohne spielerischen Umgang wäre eine kulturelle Entwicklung jedoch kaum denkbar gewesen. Die Ludologie befasst ist mit diesen Themen. Damit gehört sie zu den Human-, Sozial- und Kulturwissenschaften, wie die Anthropologie. Seit wann spielen wir Menschen denn eigentlich?

 

Sprache und Phantasie

Die ältesten Knochen der ersten identifizierten Menschenart haben die Archäologen auf 2,8 Millionen Jahren datiert. Bis die ersten Menschenarten das Feuer nutzen konnten, um sich gegen wilde Tiere besser wehren zu können oder diese besser jagen zu können, sich zu wärmen oder die Nahrung kochen zu können, vergingen ca. 2,5 Millionen Jahre. Erst 300.000 vor Christus stellten manche Menschenarten ihren täglichen Speiseplan um. Die Körperenergie wurde nun nicht mehr in dem Umfang in Magen und Darm gebraucht, um die schwer verdauliche Rohkost zu verdauen. Das menschliche Gehirn hatte freie Energieressourcen zur Verfügung, es konnte wachsen und sich weiterentwickeln. Es entstand nach der Evolutionstheorie der heutige "Homo sapiens" um das Jahr 200.000 vor unserer Zeitrechnung.

Aber anscheinend liefen unsere Vorfahren noch ca. 165.000 Jahre mehr oder weniger grunzend und brüllend auf diesem Planeten mit dem biologisch schon gut ausgebildeten Gedankenkasten herum, bis sich ein komplexes und differenziertes Sprachempfinden 35.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung herausbildete.

Ausgestattet mit der "Kulturtechnik" Sprache fingen unser Vorfahren an, nicht nur Dinge, die sie sahen, hörten, riechten, schmeckten oder anfassen konnten zu beschreiben, sie müssen sich auch Dinge und Situationen ausgedacht haben. Die Sprache ermöglichte es, von "Sachverhalten" zu erzählen, die es real nicht gibt.

 

Phantasiespiele, so tun als-ob, Fiktionen und Illusionen lassen neue Wirklichkeiten entstehen

Die menschliche Phantasie begann sich anscheinend parallel zur Sprache zu entwickeln. Nicht nur in nächtlichen Träumen kombinieren wir mit unserem Gehirn eigene Erfahrungen mit neuen, ansonsten unvorstellbaren Dingen. Auch im hellwachen Zustand sind wir in der Lage, phantasievoll und kreativ uns eine andere als die wahrgenommene Realität vorzustellen oder gar als motivierendes Element für eine anstehende Handlung zu wünschen.

 

Die Erfindung von Spielzeug

Stellen wir uns mal die Situation vor, da sitzt jemand satt in seiner Höhle. Die Sippe ist versorgt, alle Grundbedürfnisse sind befriedigt und nun spielen die Kinder, toben in der Höhle herum, weil es draußen regnet und abends am Lagerfeuer sind neue Geschichten zu erzählen, damit der Nachwuchs zur Ruhe kommt und gut einschläft. Gelangweilt greift ein Homo sapiens, ein Er oder eine Sie, zum scharfkantigen Stein und beginnt an dem noch herumliegenden Stoßzahn eines inzwischen verspeisten Mammuts herumzuschnitzen.

Gestern Abend kam während der Gutenachtgeschichte die spontane Idee bei den Kindern gut an, dass es sowas wie ein Fabelwesen, ein Mischwesen aus Mensch und Löwe geben könnte. Wie könnte so etwas aussehen? Die Phantasie, diese Idee wird materialisiert. Mit jedem Kratzer ins Elfenbein wird die Vorstellung konkreter, als sei das Ding, was da produziert wird, ein Abbild von einem Wesen, das es wirklich gibt. Es soll schon echt, real aussehen und die Phantasie der Kinder unterstützen, dann würden sie mit der Puppe als Spielzeug sicherlich auch eigenständig spielen können und sich neue Geschichten ausdenken.

Oder war es ganz anders?

 

Die Erfindung eines "Überwesens"

Menschen sind schwach und vergänglich. Es gibt Tiere, die sind stärker, schneller oder geschickter als wir Menschen. Sie können besser hören, sehen oder riechen. Wir Menschen bewundern so mache Tiere. Sie wirken auf uns majestetisch oder gar mystisch, weil sie so viel stärker sind als wir. Ein Löwe zum Beispiel.

In dem Bewusstsein, selbst nicht perfekt zu sein, träumen wir davon, anders sein zu können. Wie müsste ein Mensch sein oder aussehen, der größer, stärker, unverletzlich oder gar unsterblich ist? Er müsste anders aussehen als wir. Die menschliche Phantasie bietet sich uns an, Dinge die wir kennen, neu zu kombinieren, die es real so nicht gibt. Und wenn ich als Mensch gespürt habe, dass viele Menschen, wenn sie sich nur zusammen tun, sich einig sind, gemeinsame Ziele verfolgen, stärker sind, als wenn ich allein versuche ein Mammut zu jagen und zu töten, dann muss es vielleicht etwas geben, was über uns Menschen als Individuum steht, etwas was uns zusammenführt, um gemeinsam stärker zu sein.

Eine verbindende Kraft, eine Naturgewalt, die mehr kann und mehr ist, als ein einzelner Mensch, muss ein Übermensch sein. Dieses Wesen sollte von allen akzeptiert und sofort anerkannt werden, als etwas, was wichtiger und größer ist als man selbst. Es muss die Funktion erfüllen, dass wir Menschen bereit sind, über uns selbst und unsere Eingeschränkheit hinaus denken zu können. Wenn ein einzelner Mensch akzeptieren würde, dass es da etwas gibt, das den bei uns Menschen ansonsten fehlenden sozialen Instinkt ersetzt oder ergänzt, dann müssen wir bei der nächsten Jagd nicht mehr so lange rumdiskutieren, wie das nächste Mammut erlegt werden soll. Gemeinschaft und kollektives Handeln zu organisieren ist so mühsam, wenn es über den eigenen Familienvorstand hinausgeht, der ansonsten das Kommando hat.

So ein Löwenmensch kann ein verbindendes, ein rituelles oder gar spirituelles Element sein, das die Menschen zusammenführt, mühsame Abstimmungsprozesse bei unterschiedlichen Interessenslagen harmonisiert, Effektivität schafft und damit Effizienz bei dem Ziel der Steigerung der Überlebensfähigkeit durch Gemeinsinn ermöglicht. So ein Löwenmensch sollte uns heilig sein, er "tut" Gutes, er bewirkt etwas, was wir allein nicht bewirken können. Wenn uns etwas heilig ist, dann verlieren wir jedes Maß an Raum und Zeit, opfern uns für ein höheres Ziel und schnitzen stundenlang am Mammutstoßzahn herum, bis alle, die uns wichtig sind, diesen Übermenschen akzeptieren sowie die Ziele und Regeln, die er verkündet.

 

Spielzeug oder ritueller Gegenstand?

Ob nun der Löwenmensch ein profanes Spielzeug ist oder die erste dokumentierte Form eines religiösen Heiligtums, können wir heute nicht mehr klären. Der Künstler ist seit mehr als 35.000 Jahren nicht mehr zu befragen. Was aber verbindet diese beiden Theorien? Zum einen erwachsen beide Erklärungsansätze eindeutig aus der menschlichen Phantasie, nur die damit verbundenen jeweiligen Ziele sind unklar. Zum anderen ist daraus abzuleiten, dass ein solcher Gegenstand etwas "regeln" sollte, er Ankerpunkt sein sollte für weitere phanatievolle Kindergeschichten oder gesellschaftlich relevante Organisationsprozesse.

Ob Spiel oder Wirklichkeit, die menschliche Phanatsie ist die Grundlage für erfundene Ordnungen, für regulative Ideen, die uns unterhalten und amüsieren können oder uns bei dem Überlebenskampf gegen eine eigentlich überlegne Natur helfen. Ob Spielzeug oder ritueller Gegenstand zur Organisation und Sozialisation, der Löwenmensch führt den "Anwender" über seine eigene Existenz hinaus zu Spiel- oder Gesellschaftsregeln, auf die sich jeder einzelne einlassen kann, er mittspielen kann oder er sich ab- oder gar ausgrenzt, geistig und oder auch materiell.

Es wurden zahlreiche kleine Tierfiguren in der Höhle gefunden, die größte war das Mischwesen des Löwenmenschen, 31,1 cm hoch.

Die Künstlerin oder der Künstler müssen mit dem zur Verfügung stehenden Werkzeug (Klingen, Schaber, Kratzer oder Stichel aus Feuerstein) schätzungsweise ca. 360 Stunden an der Herstellung des Löwenmenschen gearbeitet haben.


Die Website www.loewenmensch.de wird vom Stadtmuseum in Ulm betrieben und beinhaltet detaillierte Hintergrundinformationen zur Ausgrabungsgeschichte von 1939 bis zur Restauration in 2014.

Spiel oder Kunst?

Die prähistorischen Archäologen Nicholas J. Conard (*1961) und Claus-Joachim Kind (*1953) haben in ihrem Buch zu den Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb "Als der Mensch die Kunst erfand" (2019) umfassend die Entwicklung menschlicher Kultur aus der Steinzeit heraus beschrieben und hervorragend mit Illustrationen, Kartenmaterial und Fotos veranschaulicht.

Conard, Nicholas; Kind, Claus-Joachim (2017): "Als der Mensch die Kunst erfand - Eiszeithöhlen der Schwäbischen Alb", ISBN 978-3-8062-3994-2


Vor mehr als 43.000 Jahren, als in Europa die bisher letzte Eiszeit vorherrschte (Kaltzeit, Glazial, ca. vor 115.000 bis ca. 11.700 v.Chr.) und noch die Mammuts lebten, siedelten sich erste "moderne" Menschen (Homo sapiens) in Europa an, nachweislich in Südwestdeutschland (Schwäbische Alb). Dabei trafen sie auf die schon dort lebenden Neandertaler und vermischten sich genetisch mit ihnen (Zeitabschnitt Aurignacien).

Zu dieser Zeit entwickelte sich das, was wir heute Kunst nennen. In den Grotten in Südfrankreich und Spanien sind bedeutende Höhlenmalerien an und Gravierungen in den Felswänden erste Zeugnisse künstlerischer Ausdrucksformen des Menschen, die jedoch zumeist gesehene, erlebte Lebensformen und Tiere abbildeten. Das eigenartige, phantasievolle Mischwesen aus einem menschlichen Körper und einem Löwenkopf, entsprang aus einer menschlichen Fiktion, aus einem Gedanken- oder Illusionsspiel.

Über den abenteuerlichen, langjährigen Fund der zahlreichen Splitter, zerbrochenen Einzelteile des geschnitzten Mammutstoßzahnes, aller beteiligten Forscher von 1861, über 1939 und 1969 bis hin zum neuen Zusammenbau des Löwenmenschen in 2013, berichten Conard und Kind (Conard, N.; Kind, C.-J.: Als der Mensch die Kunst erfand. Darmstadt 2019, S. 91-98).


Neuzeitliche Phantasie, Illustration zur Steinzeit und den Höhlenmenschen

Als eine geistige und damit kulturelle Errungenschaft des Homo sapiens kann die Verwendung von Symbolen verstanden werden. Mit der historischen Sprachentwicklung des Menschen setzt neben der Bemalung von Wänden ebenso die Produktion von Gegenständen ein, die keine direkt "nützlichen" Gebrauchsgegenstände waren, wie Faustkeile sondern eben zum Beispiel Schmuck und auch Spielzeug. Diese Gegenstände hatten eher eine kommunikative Wirkung, vor allem durch die Bedeutung die den entsprechenden erzeugten Symbolen beigemessen wurde. Neben einer dekorativen Absicht wurden wohl auch Formen der Identifikation und Zugehörigkeit aufgrund von gleichzeitig verwendeten Erkennungsmerkmalen genutzt. Umfassend mit dem Thema der Zeichen und Signale sowie ihrer Bedeutung, auch in unserer heutigen komplexen Welt, befasst sich die Semiotik.

Zeichen, Symbole und ihre Bedeutung sind die Gestaltungselemente der Kunst. Der bedeutende deutsche Kunsthistoriker Konrad Lange (1855-1921) hat in seinem Werk "Das Wesen der Kunst" festgestellt, dass die Kunst im Leben des Menschen genau denselben Zweck verfolgt, wie das Spiel. Er betrachtet die Kunst als Spiel (vgl. Lange, K.: Das Wesen der Kunst. Berlin 1901, Bd. 2, S. 3 ff.): "Das erste, was das Spiel mit der Kunst gemein hat, ist sein Lustcharakter und seine praktische Zwecklosigkeit." Auch mit dieser Sichtweise ist der Löwenmensch neben der Definition als frühem steinzeitlichem Kunstwerk auch ein Spielzeug, das aus dem Illusionsspiel, aus der Fiktion, dem Tun des "Als-Ob" entstanden ist. Spielzeug ist Objekt und Phantasie. Schamane, Medizinmänner und Priester pflegen die lange Tradition, Geister in allen Dingen oder Ereignissen sehen

Anthropomorphismus

Wir Menschen schaffen es mit unseren Gedanken, Materie, tote Objekte mit Phantasie zum "Leben" zu bringen. Wenn wir nichtmenschlichen Objekten menschliche Eigenschaften phantasievoll übertragen, dann spricht die Wissenschaft vom "Anthropomorphismus". Aus dem griechischen "anthropos" für Mensch und "morphé" für Form und Gestalt setzt sich dieser Begriff zusammen. Dinge, Tiere, Gottheiten, Bäume, Spielfiguren oder digitale Avatare werden vermenschlicht. Wenn Gottheiten wie Zeus oder Odin menschliche Verhaltensweisen zugeordnet werden, dann spricht man von der Subkategorie "Anthropotheismus", die der Philosoph Ludwig Feuerbach (1804-1872) so weit formuliert hat, dass der Mensch selbst Gott sei und jede Religion Anthropologie.

Aus der psychologischen Perspektive heraus ergeben sich für den Anthropomorphismus interessante Ansatzpunkte, um die Kraft des Spielens zu erklären und zu verdeutlichen. Menschliche Eigenschaften im nichtmenschlichen Objekt, im Spielzeug zu sehen, kann Blickwinkel und Gefühle beeinflussen und verändern. Spielen ist Dialog mit der Welt und ihren Konflikten. Das Objekt gewinnt so an Wert und an Beachtung, es trägt zur Konfliklösung bei. Der Teddybär erklärt dem Kind, warum Mama gerade böse war. Spielzeug ist Gefühl. Und so werden so manche Stofftiere und andere Spielzeuge zu emotional wichigen Familienmitgliedern.


Anthropomorphismus: Mit dem Teddybär schlafen verschafft gute Gefühle, Sicherheit, Geborgenheit

Dieser Prozess der Anthropomorphisierung ist als Methode der Vereinfachung zu verstehen, mit der komplexe Sachverhalte, Mehrdeutigkeiten und Mißverständnisse im alltäglichen Leben begreifbar gestaltet und verarbeitet werden können. Er zeigt sich auch in der Populärkultur, wenn die Comicfigur Donald Duck mal wieder vom Pech verfolgt wird und ich ohne Konsequenzen laut lachen kann sowie schadenfroh sein darf oder ich als Lara Croft im Computerspiel "Tomb Raider", einem Action-Adventure, Herausforderungen meistern muss.

Menschen sind soziale Wesen, wir werden "unfertig" geboren, neben unseren natürlichen Instinkten bilden wir mal mehr mal weniger mühsam eine Sozialitsation heraus, müssen Kultur und gesellschaftliches Verhalten (spielerisch) lernen.

Spiele und Rituale: Erfundene Ordnungen

Genau da, wo Worte versagen, wo es um etwas Unaussprechliches geht, bietet das Ritual eine kollektive Erfahrung, eine gemeinschaftliche Transzendenz- oder Spiritualitätserfahrung. Immer wieder "gespielte" Rituale bilden das praktische Fundament für die Mystik. Nach dem österreichisch-britischen Philosophen Ludwig Wittgenstein (1889-1951) ist das Unaussprechliche, das Unsagbare das "Mystische" (Tractatus logico-philosophicus, 6.522). Und er fährt fort: "Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen."

Wenn man aber nicht schweigen will, sich diesen mystischen Raum erschließen will, dann bedarf es erfundener Ordnungen und regulativer Ideen, die einem einen gedanklichen Spielplatz, ein Spielfeld mit entsprechenden Spielregeln einräumen.

So ein gedanklich konstruiertes Spielfeld nutzt uns Menschen. Es gibt uns das Gefühl von Sicherheit, von Kontrolle, wir können ohne größeren Aufwand zwischen Gut und Böse unterscheiden. Wir sind nicht allein dem Zufall und dem Chaos überlassen. Wir können zielführend handeln und gestalten, wir können einem "Plan" folgen, gar ein Spielziel erreichen, unser Leben mit Sinn aufladen, das anfangs Unberechenbare in Messbares verwandeln. Erfolg wird definiert, durch unsere (Teil-)Leistung als Mitspieler sind wir eingebettet in die von der Familie, der sozialen Gruppe, dem Unternehmen, der Religionsgemeinschaft oder aufgeklärten, säkularen Nation gestalteten kulturellen Rahmenbedingungen.

Wieviel Freiheit braucht ein einzelner Mensch oder Unternehmer oder Journalist? Welche "Werte" sind uns in diesem Gesellschaftsspiel wichtig? Sollen Frauen und Männer gleichberechtigt sein? Sollen Frauen Kopftücher tragen? Warum tragen Männer keine Kopftücher? Moment... es gibt Kulturen, da tragen Männer auch Kopftücher.


Traditionelle Kopfbekleidung bei Palästinensern

Gesellschaftliche Spielregeln haben oft eine lange Geschichte. Erfundene Ordnungen werden irgendwann nicht mehr hinterfragt, sie funktionieren ritualisiert, aber das Leben und der Umgang mit seinen Grundphänomenen bedeuten Veränderung. Mal mehr, mal weniger, mal schnell, mal langsam.

Regeln werden ständig auf eine Bewährungsprobe gestellt, hinterfragt oder umgangen. Es ist eine hohe Kunst gleichzeitig effizient und felxibel zu sein, zum einen Routinen zu bewahren und zum anderen Routinen zu durchbrechen. In der Organisationslehre spricht man hier von der "Ambidextrie".

Bestehendes zu nutzen und gleichzeitig Neues zu erkunden, ist die Herausforderung. Spielerisch mit Ritualen und Routinen umzugehen kann zu einer Disruption oder auch "nur" zu einer Modifikation führen. Einen Löwenkopf mit einem menschlichen Körper zu kombinieren, war ein solcher Schritt vor 35.000 Jahren, ob damit eine erste Religion erschaffen wurde oder die Kinder mit Hilfe eines Spielzeugs motiviert wurden, ein Phantasiespiel in ein Rollenspiel zu überführen.

 

Inter- und transdisziplinäre Ludologie

Der spielerische Umgang mit erfundenen Ordnungen dient der Gestaltung von Veränderung, unterstützt vielleicht notwendige Anpassungsprozesse, hinterfragt regulative Ideen, bringt uns in Kontakt zu den anderen Grundphänomenen des Menschen, wie den Umgang mit der Natur, der Liebe, der Arbeit, unserer Selbstfindung, dem Tod oder der Gestaltung von Herrschaft und Macht.

Spiel ist Dialog mit der Welt und ihren Herausforderungen, Spielzeug ist die große Welt im Kleinen. Mit Phantasie- und Rollenspielen, versuchen wir die Welt begreifbar und gestaltbar zu machen.

 




Mehr als 40.000 Jahre Spielzeug-Puppen, Löwenmensch und Steiff-Puppe: Phantasie- und Rollenspiel


Die Lehre vom Spiel, die Ludologie, ist damit viel mehr als die Analyse und die Dokumentation von Spielmechanismen oder Spielkonzepten bei digitalen Spielen.

Aufgrund ihres verbindenen Charakters in unserer künstlichen Welt mit ihren komplexen Herausforderungen möchte sie einen Beitrag dazu leisten, die oft unbewussten Strukturen zu erkennen und dem menschlichen Bedürfnis nach Einfachheit zu entsprechen, so wie es auch andere wissenschaftliche Disziplinen versuchen, Phänomene zu beschreiben, zu erklären und Entscheidungshilfen zu liefern. Die Ludologie möchte dies in Bezug auf die zahlreichen erfundenen Ordnungen dieses ach so liebenswerten sozialen Wesens, dieses Homo sapiens oder eben eher Homo ludens, erbringen.

 

Epilog zur Symbolik des Löwen

Der Löwenmensch verdeutlicht die Faszination des Menschen für dieses Katzentier. Seine Eleganz, Erhabenheit und Stärke soll wohl gerne auf Herrscher und Königshäuser abfärben. Auch wenn der Löwe als Tier nachweislich nicht in Dänemark oder England beheimatet ist, so nutzte der dänische König Knut VI. (1162-1202) ab 1194 drei Löwen als Hoheitszeichen. Wie kam er auf die Idee? Warum nahm er keine Eisbären? Er heiratete 1176 Gertrud, die Tochter von "Heinrich dem Löwen" (1129-1195), Herzog von Sachen und Bayern.

Nach der Eroberung Englands durch die Normanen (aus der Normandie kommend) im Jahre 1066 nutzen die Engländer das Löwensymbol als Königssymbol. Bei König Heinrich II. (1154-1189) reichte noch ein Löwe, Richard I., auch Richard Löwenherz genannt (1157-1198), schmückte sich anfangs noch mit zwei goldenen Löwen. Vielleicht hat er sich das Wappen vom dänischen König Knut VI. angesehen, jedenfalls erhielt sein eigenes Wappen ab 1198 dann einen weiteren, dritten Löwen.

Die von Richard Löwenherz im englischen Wappen etablierten goldenen "Three Lions" auf rotem Grund sind bis heute Bestandteil des britschen Königshauses und schmücken, in blauer Farbe, die Trikots der englischen Fußball-Nationalmannschaft. Die drei dänischen Löwen kommen ebenso blau daher, aber dort auf goldemen Grund.

Im Heimatkundeunterricht der Grundschule hatte der Autor dieser Zeilen das städtische Wappen seiner Kommune Flensburg mit Buntstiften auf einer Schwarzweißvorlage farbig auszumalen. Die dabei entstandene kognitive Dissonanz, warum er die zwei Löwen blau anzumalen hatte, wie er doch sonst nur Schlümpfe anmalte, begleitete ihn viele Jahre (s. Flensburg-Wappen rechts). Die noch größere Dissonanz, was denn Löwen mit Flensburg an der Ostsee zu tun hätten, obwohl die doch sonst ausschließlich in Afrika wohnen, konnte er sich erst Jahrzehnte später beantworten.

Da Flensburg zu Schleswig-Holstein gehört und Dänemark dieses Land und damit die Stadt nur herzöglich bis 1864 verwaltet hat, durften die Flensburger gerade einmal zwei der starken Raubkatzen aus dem dänischen Königswapppen in ihr Stadtwappen mit übernehmen (seit 1386).

Auch vor 1000 Jahren waren die Menschen noch von Löwen fasziniert, als sie längst nicht mehr Löwenmenschen aus Mammutstoßzähnen schnitzten, sondern sich Ritterschilde bemalten und daraus Herrscher- und Hoheitswappen entwarfen. Der spielerische Umgang mit unseren Gedanken, unsere Phanatsie treibt uns Menschen an, uns Dinge vorzustellen und anzueignen, die es real nicht gibt. So beginnen wir Kultur zu gestalten und Ordnungen zu erfinden, die unser komplexes, arbeitsteiliges Gesellschaftsspiel mit Leben und Mitspielern füllen. Eine wunderbare Spielwiese für die Ludologie und die Analyse von Gesellschaftsspielen und spielerischen Strukturen im gesellschaftlichen Leben.


10 Downing Street, London, der Ort, an dem britische Premierminister vor die Tür treten und ihre Reden halten, wie hier Theresa May, bei ihrem Rücktritt am 24.05.2019. Immer dabei, ein Wappen im Vordergrund, gehalten von einem Löwen (!) und einem Einhorn (!). Spielerische Symbole seit Jahrtausenden. (s. theguardian.com)

Die britische Monarchie nutzt bis heute die Symbolkraft von drei goldenden Löwen, die nicht nur im Wappen enthalten sind, dieses Wappen wird symbolisch gehalten von einem gekrönten Löwen als Kennzeichen für das Königreich England und einem (angeketteten, wilden) Einhorn als Kennzeichen für das Königreich Schottland (= UK, United Kingdom of Great Britain). Die Regierung des Vereinigten Königreiches nutzt ebenfalls das Wappen bis heute, jedoch ohne mittelalterlichen Helm und Helmschmuck (s. Bild unten).


Wappen des Vereinigten Königreichs (UK) seit der Thronbesteigung von Königin Victoria im Jahre 1837. In ähnlicher Form existiert es seit der englisch-schottischen Personalunion von 1603. Der Wappenspruch "Dieu et mon droit" stammt noch von Heinrich VI. (1422-1461), der sowohl König von Frankreich und England war. Er bedeutet, dass der König nur gegenüber Gott verantwortlich ist, aber gegenüber keiner irdischen Macht und er selbst Recht setzen kann ("Gott und mein Recht"). Als König von Gottes Gnaden und mit dem Symbol des stärksten Raubtieres als beliebtestem Wappentier sollen Mut und Königlichkeit ("König der Tiere") jedem Betrachter sofort deutlich werden.