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Hans Vaihinger (1852-1933): Philosophie des Als Ob

 Wie lässt sie diese Welt von uns Menschen bewältigen? Spielen ist Dialog mit der Welt. Über das Spielzeug, über das bespielte Objekt, angereichert mit der menschlichen Phantasie, entsteht ein Umgang. Das Spiel ist eine künstliche Herausforderung, um sich gegebenenfalls auf reale Herausforderungen vorbreiten zu können. Aber was ist real? Was ist diese Wirklichkeit? Wir befinden uns bei dieser Frage im Fachgebiet der Philosophie.

Hans Vaihinger (1852-1933)

Hans Vaihinger (1852-1933)

Das menschliche Leben ist eng mit dem Problemlösen verbunden. Die Herausforderungen des Lebens sind erfolgreich zu meistern. Ist es möglich, mit Hilfe von Vorstellungen oder Fiktionen, dem Tun "Als Ob", also Phantasiespielen, etwas Richtiges zu erreichen? Können wir Menschen mit Hilfe von vielleicht falschen Gedankenspielen etwas Nützliches bewirken? Dieser Frage ging der deutsche Philosoph Hans Vaihinger im ausgehenden 19. Jahrhundert nach.

 

Hans Vaihinger und sein "Als-Ob-Prinzip"

Hans Vaihinger (1852-1933) schrieb sein 804 Seiten umfassendes Werk "Die Philosophie des Als Ob - System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus" 1876-1878, das erst 1911 veröffentlicht wurde. Hätte man ihn gefragt, ob er sich als Spielforscher verstehen würde, hätte er wohl verneint. Aber wir beschreiben und interpretieren an dieser Stelle seine verschriftlichten Gedanken, weil sie verdeutlichen, wie wir Menschen fiktive Geschichten, d.h. Narrationen als wesentliche Spielkompetenz benötigen, um in dieser Welt leben zu können und sie gestalten zu können. Adaption und Variation sind Grundmerkmale eines Spielprozesse, dort tun wir erstmal so "als ob".

Buchrücken der 10. Auflage von 1927: "Die Philosophie des Als Ob"

So tun "Als Ob" - die Kraft der fiktiven Vorstellungsgebilde

Tut Glauben gut? Religiöse Menschen, die an Gott glauben, leben deutlich länger. In z.B. einer Studie der Ohio State University analysierten Forscher 1.500 Nachrufe auf verstorbene US-Amerikaner. Im Durchschnitt leben gläubige Menschen 5,64 Jahre länger. Dabei ist es irrelevant, welcher Religion man angehört. Der Glaube befähigt die Menschen zu einer psychischen Gesundheit, verbunden mit dem Gefühl, einer Gemeinschaft mit einem soliden ethischen Fundament, mit von allen akzeptierten gesellschaftlichen Spielregeln anzugehören, von einem Gott beschützt und umsorgt zu werden, was zu einer tiefen Lebenszufriedenheit und Dankbarkeit führt. Ein kräfteraubender, zermürbender Stress tritt bei diesen Menschen viel seltener auf. Zu viel Stress verursacht mehr Herz-Kreislauf-Erkrankungen, führt zu Überforderungen und Depressionen. Ein allgemeines Wohlbefinden stärkt das menschliche Immunsystem. Zahlreiche wissenschaftliche Studien haben sich in den vergangenen Jahrzehnten dieser Kraft der religiösen Imagination angenommen.

Hans Vaihinger beschrieb als Philosoph den Glauben als eine nützliche Fiktion. Auch wenn andere Menschen die Religion als Hirngespinnste, Einbildungen oder Erdichtungen titulieren, so fielen Vaihinger vor allem im Rechtswesen oder gar in der Mathematik zahlreiche nützliche Fiktionen auf, die er in seinem Buch auflistete. Eine mathematische Funktion strebt nach unendlich. Unendlich? Was soll das sein? Als Symbol dafür dient die auf der Seite liegende acht, weil die Vorstellung einer Unendlichkeit nicht mit üblichen Ziffern ausgedrückt werden kann. Neben der Mathematik behandeln die Religionen das Thema der Unendlichkeit mit dem nützlichen Konstrukt der Ewigkeit und des ewigen Lebens in Anbetracht des ständigen Werdens und Vergehens in der Natur und im Universum.

Symbol und Zeichen für "unendlich" in der Mathematik

 

Hauptmerkmale der Fiktionen

Der Begriff der "Fiktion" stammt aus dem Lateinischen "fictio", der Gestaltung und Formung oder der Erdichtung. Um eine Fiktion zu formulieren oder bildlich erscheinen zu lassen, muss der Mensch kreativ, schöpferisch sein. Sich Dinge und Ereignisse vorstellen können, die es in dieser Form noch nicht gibt. Wir Menschen erschaffen uns unsere eigene Welt. Damit ist die Fiktion ein Gedankenspiel, eine sehr bedeutende Kulturtechnik, um sich mit den Herausforderungen des Menschseins in verschiedenen Lebenssituationen auseinanderzusetzen. Geschichten, Mythen, Literatur, Film, Malerei oder auch Brett- und Kartenspiele (z.B. Skat) oder digitale Spiele nutzen fiktive Gedanken und Gestalten (z.B. der Löwenmensch).

Vaihinger beschreibt vier Hauptmerkmale von Fiktionen (s. S. 171 f.).

1. Fiktionen sind eine willkürliche Abweichung von der Wirklichkeit

2. Fiktionen sind provisorisch, sie haben ihren Wert, bis die menschliche Erfahrung sie ersetzt

3. Das Bewusstsein über die Fiktivität gehört zu einer normalen Fiktion dazu

4. Fiktionen verfolgen eine Zweckmässigkeit

 

Kernaussagen von Hans Vaihinger und die ludologische Perspektive

Mit der Philosophie des "Als Ob" wollte Hans Vaihinger eine "pragmatische" Theorie des Denkens entwickeln. Diese weist einen engen Bezug zum Zauberkreis ("Magic Circle") des Spielens auf. Eckpunkte seiner Überlegungen sind:

1. Fiktion und Wahrscheinlichkeit
Wir Menschen gehen seit Jahrtausenden bewusst mit fiktionalen Vorstellungen um und fügen diesen auf der Grundlage von Erfahrungen und Bewertungen Wahrscheinlichkeiten hinzu, um unser Verständnis der Welt zu strukturieren. Aus ludologischer Perspektive motivieren uns diese Gedankenspiele, Neues zu wagen, Innovation und Kreativität zu entwickeln, neben der Wirklichkeit (was immer das sein mag) uns eine geordnete oder andere Welt vorstellen zu können. Phantasie- und Gedankenspiele führen zu Konstruktionsspielen, wir beginnen, diese Welt, die wir wahrnehmen, verändern und für uns nutzen zu wollen. Vaihinger behauptet, dass viele unserer Konzepte und Annahmen über die Realität letztendlich auf Fiktionen beruhen. Damit wäre das Spiel auch aus dieser philosophischen Sicht die Grundlage unserer menschlichen Kultur.

Open-World-Game "Minecraft", wir erschaffen uns unsere Welt im digitalen Raum

 

2. Das "Als-Ob-Prinzip"
Mit dem Erklärungsansatz von Vaihinger, seinem "Als-Ob-Prinzip", das er aufgrund seiner intensiven Beschäftigung mit Immanuel Kant (1724-1804) entwickelt hat, meint er, dass wir Menschen uns bestimmte Ideen und Annahmen vorstellen und akzeptieren können, obwohl sie nicht notwendigerweise oder gesellschaftlich üblich einer objektiven Realität entsprechen. "Alternative Fakten", "Fake-News" und Verschwörungsmythen sind dafür nur aktuelle radikale Beispiele. Wir denken und handeln "als ob" bestimmte Annahmen wahr wären. Wir orientieren unser Verhalten an den von uns erkannten "Wahrheiten", um mit dieser Welt irgendwie umgehen zu können. Ludologisch gesehen orientieren wir uns an einem Referenzsystem, einem Spielkonzept, einer erfundenen Ordnung mit regulativen Ideen, einem Bewertungssystem und Handlungsrahmen, weil uns dieses einsichtig, praktisch und nützlich erscheint, es uns gar Freude oder sogar Sinn stiftet. Das ganze Leben ist ein Spiel.

Abstraktes Abbild eines menschlichen Lebenslaufes, hier mit indischem, buddhistischem Weltbild: Wir sterben immer wieder, das Leben ist Qual und es ist das Lebensziel und Spielziel, in ein schmerzfreies Nirvana zu kommen. Deutsche Brettspielvariante vom indischen Spiel "Pachisi": Mensch-ärgere-Dich nicht.

 

3. Pragmatimus
Vaihinger fokussiert sich in seiner Philosophie auf den pragmatischen Aspekt des Denkens und Argumentierens. So behauptet er, dass die Nützlichkeit einer Idee oder eines Glaubens wichtiger sei, als ihre absolute Wahrheit. Hier scheinen in diesem Gedanken der Homo oeconomicus und der Homo ludens zusammenzukommen. In dem Bewusstsein, dass es sich um ein Gedankenspiel handelt, nutzt der Homo ludens die Nützlichkeitsbewertung, spart die Energie, nach einer anderen Wirklichkeit zu suchen, weil er sich mit der aktuellen erfundenen Ordnung gut arrangieren kann. Nach Vaihinger geht es um die Effektivität bestimmter Ideen und Konzepte in der praktischen Anwendung, um unsere Handlungen, unser Verständnis und unsere Überzeugungen von der Welt lenken zu können. Da stellt sich natürlich die Frage nach dem oder den Game Designern dieser Ideen und Konzepte, welche Eigeninteressen werden verfolgt, um Menschen gegebenenfalls zu verführen? Machtspiele und Kriegsspiele verdeutlichen diese Gefahren eines gesellschaftlichen Game Designs. Sehr pragmatisch ist die Verwendung des Geldes als Tausch- und Wertaufbewahrunsmittel. Die Fiktion der Wertannahme lässt uns die wirtschaftliche Arbeitsteilung weltweit organisieren.

Pragmatisch glauben Menschen grundsätzlich an das Tauschmittel und den Aufbewahrungswert des Geldes, obwohl jeder weiß, dass Papiergeld keinen physischen Wert hat oder die Zahl auf dem Girokonto nur ein Datensatz mit Informationen ist

 

4. Kritik an der Metaphysik
Logischer Weise lehnt Vaihinger die metaphysische Suche nach absoluter Wahrheit und Realität ab. Sein Argument ist, dass es für uns Menschen unmöglich ist, die vollständige Wirklichkeit zu erkennen. Wir sind darauf angewiesen, unser Leben mit Annahmen und Fiktionen gestalten zu müssen, um unsere Welt verstehen und verändern zu können. Aus ludologischer oder auch kindlicher Sicht stellt sich die Frage: "Wenn Gott alles gemacht hat, wer hat denn Gott gemacht?" Die Spielregeln einer Religion mögen Menschen gut tun, sie geben Halt und Oriengierung, sind aber ebenso Fitktionen, die nützlich sind, beruhigen und Sicherheit vermitteln, Identität stiften. Sie sind keine absoluten Wahrheiten. Mit unseren Sinnesorganen sind wir Menschen so defizitär durch die Natur ausgestattet worden, dass Hunde besser riechen können, Adler besser sehen können und wir als Menschen so etwas wie Radioaktivität gar nicht erspüren können, obwohl sie tödlich sein kann. Dazu benötigen wir Hilfsmittel. Unsere Wirklichkeit ist eine Konstruktion, ein ständiges Tun "Als Ob".

Religionen als nützliche Fiktionen nach dem "Als-Ob-Prinzip", die einem Spielkonzept gleichen

Vaihingers Impuls für den Konstruktivismus

Die Philosophie Vaihingers mit seinem "Als-Ob-Prinzip" beeinflusste die Denkrichtungen des Konstruktivismus im 20. Jahrhundert, der zum einen den Menschen die Fähigkeit zu einer objektiven Realität im Radikalen Konstruktivismus abspricht, weil jede "Realität" immer aufgrund eigener Sinnesreize und Gedächtnisleistungen subjektiv ist oder auch in abgemilderter Form von einer "gemeinsamen Konstruktionsweise" ausgeht, wo wir Menschen mit Hilfe "methodischer Erkenntnis- und Wissenschaftskonstruktion" zu verbindenden Erkenntnissen und Weltbildern gelangen. Aus ludologischer Perspektive können wir uns somit auf gemeinsame Spielregeln der Wirklichkeitsinterpretation einigen, s. Erlanger Konstruktivismus, Paul Lorenzen (1915-1994) und Wilhelm Kamlah (1905-1976).

Der historische und aktuelle philosophische Pragmatismus steht ebenso in enger Verbindung zum "Als-Ob-Prinzip" von Hans Vaihinger.


Menschen leben in konstruierten Welten und Städten. Was ist echt? Was ist Spiegelung? Was ist Realität, wenn wir nicht alles wahrnehmen können? Komplexe Gesellschaften benötigen komplexe Spiele. Spiele erhalten uns den Optimismus

 

"Vor den Erfolg haben die Götter die Phantasie gestellt."

Artikel zu den Gedankenspielen auf ludologie.de: HIER.